Antonio

„Es reicht nicht, dass du schwarz bist - du musst auch noch schwul sein!“

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Für Menschen mit Migrationshintergrund ist in Deutschland vieles schwerer als für Menschen ohne. Für Frauen gilt dasselbe. Rein statistisch gesehen musst Du in Deinem Leben deswegen mit besonders vielen Nachteilen rechnen.

9,2 Prozent aller Deutschen hat nach einem Bericht des Statistischen Bundesamtes aus dem Jahr 2017 in den letzten zwei Jahren aufgrund seiner Geschlechtsidentität Diskriminierungserfahrungen gemacht. Frauen betrifft dies fünfmal häufiger als Männer, besonders oft wirst Du als Frau wahrscheinlich Diskriminierung in Deiner Arbeitsstelle erfahren. 2017 waren in Deutschland nur rund 29 Prozent der Führungspositionen von Frauen besetzt - unteres Drittel im Vergleich zu den anderen EU-Mitgliedsstaaten. Auch als Mensch mit Migrationshintergrund wirst Du in Deutschland voraussichtlich Diskriminierung erfahren - am wahrscheinlichsten, wenn Du einen äußerlich sichtbaren Migrationshintergrund hast. In den Fall liegt die Wahrscheinlichkeit, dass Du Dich häufig diskriminiert fühlst, bei 48 Prozent. Das hat zumindest der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration (SVR) 2018 in einer Studie herausgefunden.

Mit Akzent und äußerlich erkennbarem Migrationshintergrund ist es am schlimmsten

Ist Dein Migrationshintergrund nicht äußerlich sichtbar, dürftest Du deutlich entspannter leben: Nur 17 Prozent der Menschen ohne äußerlich erkennbaren Migrationshintergrund fühlen sich häufig diskriminiert. Wenn Dein Migrationshintergrund beispielsweise durch Deine Hautfarbe äußerlich erkennbar ist und Du einen Akzent hast, ist die Wahrscheinlichkeit besonders hoch, dass Du häufig diskriminiert wirst: Laut dem Sachverständigenrat fühlen 59 Prozent dieser Menschen sich häufig diskriminiert.

Diskriminierungserfahrung von Zugewanderten nach phänotypischer Differenz und Akzent

Antonio Marcel Vargas ist Afrobrasilianer. Seit drei Jahren lebt er in Berlin. Dort, erzählt er, hat er noch keine Diskriminierung zu spüren bekommen. In Brasilien allerdings schon. 54 Prozent der brasilianischen Bevölkerung sind schwarz, sagt Antonio. Die aktuellsten Zensus-Daten von 2010 aus Brasilien nennen ähnliche Zahlen. Obwohl nicht-weiße Brasilianer*innen die Mehrheit der Bevölkerung stellen, werden sie in Brasilien auf vielfache Weise diskriminiert. Auch Frauen, sagt Antonio, haben es in seiner Heimat nicht leicht.

Ein Migrationshintergrund kann verschiedene Dinge bedeuten. Wer wie Antonio nach Deutschland zugewandert ist, hat in den meisten Fällen einen Migrationshintergrund. Auch in Deutschland geborene Menschen, bei denen nur ein Elternteil zugewandert ist, haben nach gängiger deutscher Definition einen Migrationshintergrund. Nach Einschätzung des SVR ist jedoch bei Diskriminierungserfahrungen vor allem der sogenannte sichtbare Migrationshintergrund zentral, also äußerliche Merkmale, die auf eine ausländische Herkunft schließen lassen. Antonio wurde in Brasilien wegen seiner Hautfarbe diskriminiert, obwohl er dort geboren war.

Antonio

„Kein sicherer Ort für Homosexuelle, Schwarze und Frauen“

Das hängt laut ihm auch mit Brasiliens neuem Präsidenten zusammen, dem rechten Jair Bolsonaro. Seitdem er an der Macht sei, sei das Land für diskriminierte Gruppen gefährlicher geworden. „Brasilien“, sagt Antonio, „ist kein sicherer Ort für Frauen, Schwarze und Homosexuelle“. Über Deutschland kann man das wahrscheinlich nicht sagen. Trotzdem - auch hier hast Du es als Frau nicht immer leicht. Beispielsweise nicht, wenn Du in den sogenannten MINT-Fächern (Mathematik, Informatik, Naturwissenschaften und Technik) studieren willst. Dort sind Frauen nämlich deutlich in der Unterzahl. 2016/17 lag der Anteil der weiblichen Studentinnen bei 28,4 Prozent.

Antonio stammt aus einem armen Viertel einer kleinen Stadt und hatte damit keinen Zugang zu guter Bildung. Damit er studieren durfte, musste er hart arbeiten – und braucht auch ein kleines bisschen Glück. Nach der weiterführenden Schule hatte er direkt angefangen, in einer kleinen Snackbar zu arbeiten. Die besuchten auch Mitarbeiter*innen einer privaten und damit teuren Sprachschule häufig. Eines Tages hörte er sie von einem Stipendium sprechen. „Nach vier Englischstunden konnte man einen Test machen – und wenn man den bestand, weiter an der privaten Sprachschule lernen“, erinnert er sich.

Der Brasilianer machte den Test – und fiel durch. Trotzdem durfte er an der Schule bleiben, denn dessen Inhaber schlug ihm einen Deal vor: Wenn er an der Schule bleiben würde, um in Teilzeit für ihn zu arbeiten, dürfe er auch an der Schule Englisch lernen. Antonio willigte ein. Und begab sich, ohne es zu wissen, auf einen Bildungsweg, der ihn auch an die Universität führen würde.

17 Prozent der Frauen werden am Arbeitsplatz sexuell belästigt

Als Frau in Deutschland erwartet Dich Diskriminierung vor allem am Arbeitsplatz, denn dort machen Frauen 42 Prozent der Diskriminierungserfahrungen. Diese Erfahrungen sind dabei vielschichtig, besonders häufig ist die ungleiche Bezahlung von Frauen und Männern – trotz gleicher Arbeit und Qualifikation. Im Jahr 2016 betrug die Differenz zwischen dem durchschnittlichen Bruttoverdienst der Frauen (16,26 Euro) und dem der Männer (20,71 Euro) etwa 21 Prozent. Dieser sogenannte unbereinigte Gender Pay Gap hat eine Vielzahl von Ursachen, unter anderem schließt er die Tatsache ein, dass Frauen sehr viel häufiger in Teilzeit arbeiten. Etwas weniger als diese materielle Benachteiligung kommen trotzdem weiterhin andere Formen der Diskriminierung hinzu. 17 Prozent der Betroffenen schildern Mobbing-Erfahrungen aufgrund ihres Geschlechtes, eine andere Umfrage der Antidiskriminierungsstelle des Bundes ergab, dass 17 Prozent aller weiblichen Beschäftigten bereits am Arbeitsplatz sexuell belästigt wurden.

Kategorisierung von Diskriminierungserfahrungen von Frauen nach Lebensbereich

Das Thema Kinder wird Dich als berufstätige Frau wahrscheinlich beschäftigen - selbst dann, wenn Du schon längst entschieden hast, keine Kinder zu bekommen. Für einige Unternehmen wirkt bereits die Möglichkeit einer Schwangerschaft abschreckend. In der Befragung eines Meinungsforschungsinstituts gab ein Drittel der Frauen im Alter zwischen 24 und 35 Jahren an, dass sie im Bewerbungsgespräch direkt nach der Familienplanung gefragt wurden – nach dem Bundesarbeitsgesetz definitiv eine unzulässige Frage. Mit der Entscheidung, Kinder zu bekommen, änderten sich für 74 Prozent der Befragten die Umstände ihrer Arbeit. 56 Prozent gaben sogar an, dass sie Kinder generell als negativen Einfluss auf die Karriere empfinden.

„Geh doch zurück nach Afrika“

Mehr als zwei Jahre arbeitete Antonio an der Sprachschule und lernte Englisch – bis er von einem Stipendium für schwarze Menschen für die Universität hörte. Er bewarb sich und gewann. Noch am Tag der Zusage bekam er auch an der privaten Sprachschule einen neuen Job: Er durfte in den Anfängerkursen selbst Englisch unterrichten. „Gleichzeitig zu studieren und zu arbeiten, ist aber nicht leicht“, erzählt Antonio. Manchmal sei er gestresst und hektisch gewesen. Einmal habe ein Kollege an der Sprachschule in der Mittagspause deswegen zu ihm gesagt: ‚Wenn das hier nicht gut für dich ist, dann geh doch zurück nach Afrika.‘

Antonio schluckt und hält kurz inne. „Stell Dir das mal vor: du bist in deinem eigenen Land, du arbeitest, du studierst – du machst eigentlich alles richtig.“, sagt er. „Und trotzdem ist es nicht genug, um respektiert zu werden.“ Seinem Kollegen sei er bestimmt, aber nicht aggressiv entgegengetreten. Später habe er sich an seinen Chef gewandt und ihm von der Situation erzählt. Der Kollege sei gekündigt worden.

„Ich hätte ihn auch verklagen können, denn Rassismus ist in Brasilien eine Straftat“, erzählt Antonio, „aber mir ging es nur darum, dass er etwas lernt. Ich wollte nicht einfach den Kopf einziehen.“ Er habe früh gelernt, für sich selbst einzustehen. Würde er das nicht machen, sagt er, wäre alles, was Martin Luther King und Rosa Parks erkämpft hätten, umsonst gewesen.

Keine Vorbilder

Antonio sagt, ein großes Problem sei, dass Menschen aus diskriminierten Gruppen in Brasilien zu selten in gesellschaftlichen relevanten Positionen seien. Antonio habe auf seiner Schule keine einzige schwarze Lehrkraft gehabt. „Das ist auch der Grund, warum ich nach der Schule erst einmal nicht studiert habe, sondern direkt angefangen, zu arbeiten“, erklärt der Brasilianer, „ich dachte, die Uni sei kein Ort für mich.“ Entsprechend sei er gar nicht auf die Idee gekommen, zu studieren.

Als er in der Universität dann zum ersten Mal einen schwarzen Professor sah, sei das ein Schlüsselmoment für ihn gewesen. „Ich war so glücklich, weil ich zum ersten Mal gesehen habe, dass es da draußen wirklich einen Platz für mich gibt.“ Erst in diesem Moment sei er wirklich sicher gewesen, dass er Sprachlehrer werden wolle. Gleichzeitig habe ihn die Erkenntnis, dass es trotz des hohen Anteils an Schwarzen in der Bevölkerung nur einen schwarzen Professor an seiner Universität gab, gelehrt, kritisch zu denken.

Laut Antonio ist Bildung der Schlüssel, um die Diskriminierung und die Ungleichheit auf der Welt zu beenden. „Ohne Bildung kommen wir nie dorthin, wohin wir wollen, ohne Bildung können wir die Dinge nicht verändern“, sagt er. Durch Bildung sei er von einem Jungen, der in einer Snackbar arbeitete, zu einem Mann geworden, der fünf verschiedene Sprachen spricht und in einem anderen Land studiert.



Dieser Text wurde für Dich ausgewählt, weil Du angegeben hast, einen Migrationshintergrund zu haben. Außerdem hast Du angegeben, dass Du ein Arbeiterkind bist. Diese zweite Eigenschaft wird auch in diesem Text näher beleuchtet. Wenn Dich interessiert, was andere Menschen beschäftigt, kannst Du einfach den Test mit anderen Antworten wiederholen oder Dir unsere anderen Geschichten durchlesen:

Das Projekt Choose Your Own Future ist entstanden, weil wir uns damit auseinandergesetzt haben, wie bestimmte Merkmale das Leben vieler Menschen beeinflussen. Merkmale, an denen wir häufig wenig ändern können.

Es gibt viele Merkmale, die dazu führen können, dass Menschen diskriminiert werden. Wir können uns nicht mit allen davon auseinandersetzen, sondern mussten einige auswählen. Das heißt nicht, dass Eigenschaften, die hier nicht erwähnt werden, zu weniger Diskriminierung führen. Leid lässt sich nicht gegeneinander aufwiegen. Wir haben uns dafür entschieden, die Merkmale in folgender Reihenfolge abzufragen: Geschlecht > Bildungsgrad der Eltern > Sexuelle Orientierung > Migrationshintergrund. Sie könnten aber auch in jeder anderen Reihenfolge stehen.

Auch in unseren Texten mussten wir uns beschränken. Deswegen haben wir uns entschieden, nicht mehr als zwei statistische Merkmale in einem Text zusammenzufassen. Ein weibliches Arbeiterkind mit Migrationshintergrund wird also trotzdem nur bei dem Text über Arbeiterkinder mit Migrationshintergrund landen, der sich vor allem mit dem Migrationshintergrund beschäftigt.