Etienne

„Egal was passiert, in meinem Leben gibt es eine Konstante, das bin ich selbst“

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Erst mal: Vielen Dank für Deine Offenheit! Denn wie Studien belegen, zögert die Mehrheit der Menschen, ihre Sexualität als lesbisch, schwul oder bisexuell offen zuzugeben. Das zeigt sich zum Beispiel im Sozio-ökonomischen Panel (SOEP) von 2017 des DIW Berlin – Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e. V. In dieser Befragung aus dem Jahr 2016 verweigerten 13% der Teilnehmenden die Frage nach ihrer Sexualität. Aus diesem Grund greifen Forschende bei der Berechnung des Anteils von Lesben, Schwulen und Bisexuellen innerhalb der erwachsenen Bevölkerung auf sogenannte Korrekturfaktoren zurück.

Um möglicher Diskriminierung aus dem Weg zu gehen, wirst Du statistisch gesehen versuchen oder versucht haben, Deine Sexualität so gut es geht zu verdecken. Womöglich wirst Du sogar vorgeben etwas zu sein, dass Du nicht bist: heterosexuell. Die Forschenden gehen darum in ihren Studien von absichtlichen Falschangaben durch die Teilnehmenden aus, die damit ein vermeintliches Erwartungsbild der Gesellschaft erfüllen wollen. Aufgrund der Falschangaben und Verweigerung von Angaben, wird von einer starken Unterschätzung des Anteils von Lesben, Schwulen und Bisexuellen in der Bevölkerung ausgegangen.

Die Erwartungshaltung seines Umfelds hatte auch Etienne Genedl erfüllen wollen. Für diesen Wunsch, den Erwartungen Anderer zu entsprechen, unterdrückte der gebürtige Hesse seine Sexualität und war bereit, den Rest seines Lebens an der Seite einer Frau zu verbringen. „Ich bin in der christlich-fundamentalistischen Sekte Zeugen Jehovas aufgewachsen. Für mich war Homosexualität früher immer ein Tabuthema und es war ebenfalls vollkommen normal, solche Menschen als absonderlich zu empfinden. Als jemanden, der nicht so sein darf, weil Gott das so nicht will.“ 2007 hat Etienne das erste Mal offen über sein homosexuelles Empfinden gesprochen, entschied sich aber trotzdem, mit einer Frau zusammen zu sein und sie zu heiraten. „Nicht nur, um etwas zu verdecken, da war durchaus Liebe im Spiel.“

„Wenn ich nicht mir selbst treu bleibe, dann funktioniert der Rest sowieso über kurz oder lang nicht.“

Der Datenreport 2018 des statistischen Bundesamtes zeigt einen deutlichen Anstieg gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in Deutschland von 2007 bis 2017. Der Mikrozensus für das Jahr 2017 weist 112.000 gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften auf, 2007 waren es noch 68.000. Von den 112.000 gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften im Jahr 2017 werden 55 Prozent von Männern gelebt. Zu diesen 55 Prozent zählen auch Etienne und sein Ehemann.

Die Ehe mit einer Frau hat für den Kunst- und Musikliebhaber nicht funktioniert, aus vielen verschiedenen Gründen nicht. „Natürlich auch wegen meiner Homosexualität.“ 2009 fasste Etienne einen schwerwiegenden Entschluss: „Mit dem Ausstieg aus der Sekte ist mein komplettes gesellschaftliches Umfeld zusammengebrochen.“

In diesem Jahr stellt sich nicht nur das soziale Umfeld des heute 34-Jährigen komplett auf den Kopf, er lernt auch seinen späteren Ehemann kennen.

Gleichgeschlechtliche Partnerschaften in Deutschland 2015

Alles auf Anfang

„Ich habe bei Null angefangen. Alle Säulen, die ich im Leben kannte, waren weg. In der Situation, in der ich war, habe ich aber auch gelernt, dass, egal was passiert, ich in meinem Leben immer eine Konstante habe, und das bin ich selbst. Wenn ich nicht mir selbst treu bleibe, dann funktioniert der Rest sowieso über kurz oder lang nicht.“

Nach dem Kennenlernen 2009 in Leipzig machte das Paar 2014 seine Liebe amtlich und dank „Ehe für alle“ hat das Ehepaar seit 2018 praktisch zwei Hochzeitstage.

Selbst wenn Du nicht wie Etienne aus einer Sekte austrittst, kann es Dir passieren, dass sich Dein Leben durch Deine offen gelebte Sexualität auf den Kopf stellt. Trotz „Ehe für alle“ und viel Aufklärungsarbeit durch Organisationen und Verbände gibt es noch immer Menschen, die homosexuelle Menschen als Sonderlinge oder als Randgruppen der Gesellschaft betrachten. Ausgrenzung und Tuschelei kannte Etienne schon früh. Erst dafür, dass er in einer Sekte lebte, dann, dass er aus dieser Sekte ausstieg und heute dafür, dass er einen Mann liebt. Nach dem Ausstieg aus der Sekte hat sich Etienne ein komplett neues Umfeld aufbauen müssen. 2016 beginnt Etienne einen Nebenjob bei Amazon und dort gerät er wieder in eine vollkommen neue Welt. „Gerade bei einem Arbeitgeber wie Amazon hast du auch mit einem Milieu zu tun, das kein Verständnis hat für Männer, die wie Frauen aussehen und Bärte haben.“

Tuschelei und das Gefühl, ein Sonderling zu sein, holen bei Etienne schlechte Erinnerungen hoch.

„Hehe, Schwuli“

„Diese Erfahrung zu machen, dass Dich Menschen vollkommen ablehnen, in dem Fall buchstäblich mit dir aufhören, zu sprechen, auch die eigene Familie, war hart.“ Etienne hatte sein komplettes Leben vor 2009 verloren. Er musste sich alles neu aufbauen. „Dann an einen Arbeitsplatz zu kommen und wieder das Gefühl zu haben, in dieser Umgebung nicht geschützt zu sein, das ist Stress. Das ist psychisch sehr belastend.“

Dabei hat Etienne bei Amazon tatsächlich keine systematische Diskriminierung erlebt. „Das würde gar nicht gehen, solche Leute fliegen raus.“ Es gebe schwul-lesbische Arbeitsgemeinschaften und es würde sehr auf Geschlechtergleichheit geachtet, klärt er auf. „Soweit die Theorie. Die Praxis ist: der Standort. Ich bin mal unverschämt: Sachsen ist eine Region, die in der Hinsicht noch nicht so bunt denken kann.“ (1,5% der gegründeten Lebenspartnerschaften 2015 sind gleichgeschlechtliche, Quelle: Statistisches Bundesamt) Es gab zwei, drei Situationen in denen jemand über ihn ‚gestolpert‘ sei.

Verschüchterte Bemerkungen wie „Hehe, Schwuli“ auf der Herrentoilette prallen äußerlich zwar an Etienne ab, innerlich „hat mich das schon eingeschüchtert.“ Es hätte ihn aber nicht einschüchtern sollen, stellt er rückblickend fest. Denn es sei tatsächlich nichts Großes passiert. „Es ist vollkommen ‚normal‘, an einem solchen Arbeitsplatz – leider –, dass du als Frau, als schwuler Mann, als Ausländer in irgendeiner Form auffällst und das wird Thema, über Wochen.“ Damit müsse man in irgendeiner Form umgehen lernen.

Homo- und bisexuelle Menschen haben ein höheres Risiko für psychische Probleme

Aus statistischer Sicht musst Du Dich als homosexueller Mann nicht nur auf Alltagsdiskriminierung einstellen, sondern auch auf eine, im Vergleich zu Deinen heterosexuellen Kollegen, geringere Vergütung im Job. Liegt der mittlere Stundenlohn heterosexueller Männer bei 18,14 Euro, erhalten homosexuelle Männer bei gleicher Qualifikation, Stellung, Berufserfahrung, Arbeitszeitmodell und Branche im Schnitt nur 16 Euro die Stunde. Die Forschung bezeichnet dieses Phänomen in Anlehnung an den Gender Pay Gap als den „Sexuality Pay Gap“.

Sexuality Pay Gap

Vergütung pro Stunde bei gleicher Qualifikation, Branche und Tätigkeit

Seit Juni 2016 ist Etienne Teamleiter von 16 Mitarbeitern, den Sexuality Pay Gap bekommt er bei Amazon nicht zu spüren.

„Das gibt es nicht.“ Amazon regele die Bezahlung über sogenannte Joblevel. Darüber werden jeweils vergleichbare Tätigkeiten der verschiedenen Abteilungen gleich vergütet. „Egal welches Geschlecht, welche Religion oder welche Sexualität.“

Statistisch gesehen hast Du als homo- oder bisexueller Mann ein geringeres Wohlbefinden und ein höheres Risiko für psychische Probleme. Die SOEP-Studie begründet dieses Ergebnis unter anderem mit der Annahme, dass die Diskriminierung und Stigmatisierung, der die homo- und bisexuell orientierten Befragten aufgrund dieser sexuellen Orientierung ausgesetzt sind, zu chronischem Stress führen. Der dauerhafte Stress führt wiederum, so die Studie, dazu, dass im Vergleich zu den heterosexuell orientierten Befragten (10 Prozent), doppelt so viele der lesbisch, schwul oder bisexuell orientierten Befragten angaben, dass bei ihnen schon einmal eine depressive Erkrankung diagnostiziert wurde (20 Prozent).

Auf einer Skala von 0 (ganz und gar unzufrieden) bis 10 (ganz und gar zufrieden) bewerteten die lesbischen, schwulen und bisexuellen Befragten ihre allgemeine Lebenszufriedenheit im Schnitt mit einer 7,0, die heterosexuellen Befragten waren mit 7,4 etwas zufriedener.

Etienne hat zwar keine systematische Diskriminierung an seinem Arbeitsplatz erlebt, dennoch ist ihm bewusst, aufgrund seiner Homosexualität jederzeit zur Zielscheibe werden zu können.

„Die Angst bleibt, dass, egal, wie du dich verhältst, am Schluss du der derjenige bist, der in irgendeiner Form nochmal zusätzlich ausgegrenzt wird.“ Diese Angst schwinge immer mit. Es könne Schwulen- und Lesbenverbände geben, Arbeitsgruppen in Firmen. „Am Schluss, sobald du zu irgendeiner vermeintlichen Minderheit gehörst, wirst du immer diese Angst haben, dass letztlich Deine Rechte nicht gewahrt werden.“

Du befindest Dich im täglichen Kampf mit Dir selbst, kämpfen oder sparst Du Deine Ressourcen? Etienne entschied sich im konkreten Fall für Konfrontation:

„Ich habe einen Mitarbeiter zur Rede gestellt und gesagt ‚Hör zu, ich habe keinen Bock mehr auf den Scheiß. Ich will, dass das aufhört.‘ Er hat es später abgestritten, das wären doch alles nur Missverständnisse gewesen. Ich habe den Braten gerochen. Ich weiß wie die Leute sind und ich habe das so viele Jahre vorher erlebt, wie es ist, wenn Menschen tuscheln. Da kann mir hinterher keiner einen n aufbinden. Ich habe die Sache aber auf sich beruhen lassen. Mir war es wichtiger, meine Ruhe zu haben.“

Das mag nach Resignation klingen, aber Etienne weiß heute, dass es sich nicht jeder Kampf wert ist gekämpft zu werden.

„Was mich betrifft, betrifft auch muslimische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, betrifft Menschen, die sich in irgendeiner Form unterscheiden von der Durchschnittsmehrheit, die wir aktuell noch haben. Man muss sich an diese Alltagsrassismen gewöhnen, oder aber man fährt jedes Mal die politische Keule aus und dann wirst du nicht fertig, nicht an so einem Standort.“

Etienne

„Ich glaub, ich war früher kämpferischer.“

„Ganz allein jedes Mal in einer Gruppe von zehn Leuten zu sagen, ‚Leute, denkt doch mal mit!‘, macht müde. Da musst du dir gut überlegen, wie viel dir deine Energie wert ist am Ende des Tages.“

Etienne hat auf jeden Fall nicht die Absicht, sich in seiner Lebensführung einschränken zu lassen und das wirst Du auch nicht.

Er und sein Mann haben in Wurzen ein Haus gebaut, haben Anschluss in der dortigen Gemeinschaft gefunden und sind glücklich, auch wenn es nicht immer einfach ist, mit Blicken und Kommentaren klarzukommen. Dass nun das Wahlbüro der AfD im Nachbarhaus gezogen ist, ist dann auch nur noch Ironie des Schicksals.

„Du musst dich daran gewöhnen, dass alle Leute um dich herum nicht einfach nur wahrnehmen. Homosexualität bleibt für die Leute immer noch eine Ausnahme. Und so lange sie nicht selbst jemanden kennen, einen Freund, einen Arbeitskollegen, einen Familienangehörigen, der sich outet, wird es so bleiben.“



Dieser Text wurde für Dich ausgewählt, weil Du angegeben hast, homosexuell zu sein. Wenn Dich interessiert, was andere Menschen beschäftigt, kannst Du einfach den Test mit anderen Antworten wiederholen oder Dir unsere anderen Geschichten durchlesen:

Das Projekt Choose Your Own Future ist entstanden, weil wir uns damit auseinandergesetzt haben, wie bestimmte Merkmale das Leben vieler Menschen beeinflussen. Merkmale, an denen wir häufig wenig ändern können.

Es gibt viele Merkmale, die dazu führen können, dass Menschen diskriminiert werden. Wir können uns nicht mit allen davon auseinandersetzen, sondern mussten einige auswählen. Das heißt nicht, dass Eigenschaften, die hier nicht erwähnt werden, zu weniger Diskriminierung führen. Leid lässt sich nicht gegeneinander aufwiegen. Wir haben uns dafür entschieden, die Merkmale in folgender Reihenfolge abzufragen: Geschlecht > Bildungsgrad der Eltern > Sexuelle Orientierung > Migrationshintergrund. Sie könnten aber auch in jeder anderen Reihenfolge stehen.

Auch in unseren Texten mussten wir uns beschränken. Deswegen haben wir uns entschieden, nicht mehr als zwei statistische Merkmale in einem Text zusammenzufassen. Ein weibliches Arbeiterkind mit Migrationshintergrund wird also trotzdem nur bei dem Text über Arbeiterkinder mit Migrationshintergrund landen, der sich vor allem mit dem Migrationshintergrund beschäftigt.