Etienne

„Wenn ich nicht mir selbst treu bleibe, dann funktioniert der Rest sowieso nicht.“

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Herzlichen Glückwunsch! Wusstest Du, dass Du, rein statistisch, nach heterosexuellen Männern, als homosexuelle Frau am meisten verdienen wirst? Das jedenfalls besagt das Sozio-ökonomische Panel (SOEP) von 2017 des DIW in Berlin – Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e. V.. Nicht schlecht, wenn da nicht andere Diskriminierungserfahrungen wären, von denen Du, wenn man der Statistik gauben will, im Laufe Deines Leben betroffen sein wirst oder vielleicht schon warst.

Um möglicher Diskriminierung aus dem Weg zu gehen, wirst Du beispielsweise eventuell versuchen oder versucht haben, Deine Sexualität so gut es geht zu verstecken. Womöglich wirst Du sogar vorgeben, etwas zu sein, das Du nicht bist: heterosexuell. Die Forschenden gehen darum in ihren Studien von absichtlichen Falschangaben durch die Teilnehmenden aus, die damit ein vermeintliches Erwartungsbild der Gesellschaft erfüllen wollen. Aufgrund der Falschangaben und Verweigerung von Angaben, wird von einer starken Unterschätzung des Anteils von Lesben, Schwulen und Bisexuellen in der Bevölkerung ausgegangen.

Die Erwartungshaltung seines Umfelds hatte auch Etienne Genedl erfüllen wollen. Für diesen Wunsch, den Erwartungen anderer zu entsprechen, unterdrückte der gebürtige Hesse seine Sexualität und war bereit, den Rest seines Lebens als Ehemann einer Frau zu verbringen. Etienne ist in der christlich-fundamentalistischen Sekte Zeugen Jehovas aufgewachsen. “Für mich war Homosexualität früher immer ein Tabuthema und es war ebenfalls vollkommen normal, solche Menschen als absonderlich zu empfinden. Als jemanden, der nicht so sein darf, weil Gott das so nicht will.” 2007 hat er das erste Mal offen über sein homosexuelles Empfinden gesprochen. “Ich habe mich trotzdem entschieden, mit einer Frau zusammen zu sein und sie zu heiraten. Nicht nur um etwas zu verdecken, da war durchaus Liebe im Spiel.“

Von 68.000 auf 112.000 gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften in zehn Jahren

Der Datenreport 2018 des Statistischen Bundesamtes zeigt einen deutlichen Anstieg gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in Deutschland von 2007 bis 2017. Der Mikrozensus für das Jahr 2017 weist 112.000 gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften auf, 2007 waren es noch 68.000. Von den 112.000 gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften im Jahr 2017 wurde mit 45 Prozent weniger als die Hälfte von Frauen gelebt. In 11.000 der gleichgeschlechtlichen Haushalte lebten im Jahr 2017 Kinder. Von diesen Paaren war mit 96 Prozent die deutliche Mehrheit weiblich.

Die Ehe mit dem anderen Geschlecht hat für den Kunst- und Musikliebhaber nicht funktioniert, aus vielen verschiedenen Gründen nicht. „Natürlich auch wegen meiner Homosexualität.“ 2009 fasste Etienne einen schwerwiegenden Entschluss: „Mit dem Ausstieg aus der Sekte ist mein komplettes gesellschaftliches Umfeld zusammengebrochen.“

„Männer, die wie Frauen aussehen und Bärte haben“

In diesem Jahr stellt sich nicht nur das gesellschaftliches Leben des heute 34-Jährigen komplett auf den Kopf, er lernt auch seinen späteren Ehemann kennen.

Etienne hat damals bei Null angefangen. Alle Säulen, die er im Leben kannte, sind mit einem Mal weggebrochen. Aber aus dieser Situation hat er mindestens eines gelernt: Dass, egal, was passiert, er in seinem Leben immer eine Konstante haben wird. „Das bin ich selbst. Wenn ich nicht mir selbst treu bleibe, dann funktioniert der Rest sowieso über kurz oder lang nicht.“

Nach dem Kennenlernen 2009 in Leipzig machte das Paar 2014 seine Liebe amtlich und seit dem 06. März 2018 hat das Ehepaar zwei Hochzeitstage.

Selbst wenn Du nicht wie Etienne aus einer Sekte austrittst, kann es Dir passieren, dass sich Dein Leben durch Deine offen gelebte Sexualität auf den Kopf stellt. Trotz „Ehe für alle“ und viel Aufklärungsarbeit durch Organisationen und Verbände gibt es noch immer Menschen, die homosexuelle Menschen als Sonderlinge oder als Randgruppen der Gesellschaft betrachten. Ausgrenzung und Tuschelei kannte Etienne schon früh. Erst dafür, dass er in einer Sekte lebt, dann dafür, dass er aus dieser Sekte ausstieg und heute dafür, dass er einen Mann liebt.

Alles auf Anfang

Nach dem Ausstieg aus den Zeugen Jehovas hat sich Etienne ein komplett neues Umfeld aufbauen müssen. 2016 beginnt Etienne einen Nebenjob bei Amazon und gerät dort wieder in eine vollkommen andere, ihm fremde Welt. Bei seinem neuen Arbeitgeber Amazon sei er auf ein Milieu getroffen, das kein Verständnis habe für zum Beispiel „Männer, die wie Frauen aussehen und Bärte haben.“ Die Tuschelei und das Gefühl, aufgrund seiner Sexualität ein Sonderling zu sein, holen bei Etienne schlechte Erinnerungen hoch.

„Diese Erfahrung zu machen, dass dich Menschen vollkommen ablehnen, in dem Fall buchstäblich mit dir aufhören, zu sprechen, auch die eigene Familie, war hart.“ Etienne hatte sein komplettes Leben vor 2009 verloren. Er musste sich alles neu aufbauen. „Dann an einen Arbeitsplatz zu kommen und wieder das Gefühl zu haben, in dieser Umgebung nicht geschützt zu sein, das ist Stress. Das ist psychisch sehr belastend.“

Dabei habe es bei Amazon tatsächlich keine systematische Diskriminierung gegeben. Das würde garnicht gehen, „solche Leute fliegen raus.“ Es gebe schwul-lesbische Arbeitsgemeinschaften und es würde sehr auf Geschlechtergleichheit geachtet. „Soweit die Theorie. Die Praxis ist: Der Standort. Ich bin mal unverschämt: Sachsen ist eine Region die in der Hinsicht noch nicht so bunt denken kann.“ (1,5 Prozent der gegründeten Lebenspartnerschaften 2015 sind gleichgeschlechtliche, Quelle: Statistisches Bundesamt) Es gab zwei, drei Situationen in denen Kollegen über ihn ‚gestolpert‘ seien.

Gleichgeschlechtliche Partnerschaften in Deutschland 2015

Diskriminierung und Stigmatisierung führen zu chronischem Stress

Verschüchterte Bemerkungen wie „Hehe, Schwuli“ auf der Herrentoilette prallen äußerlich zwar an Etienne ab, innerlich „hat mich das schon eingeschüchtert. Es hätte mich aber nicht einschüchtern sollen.“ Tatsächlich sei nichts Gravierendes passiert. „Es ist vollkommen ‚normal‘, an einem solchen Arbeitsplatz – leider –, dass Du als Frau, als schwuler Mann, als Ausländer in irgendeiner Form auffällst. Damit musst Du in irgendeiner Form umgehen.“

Aus statistischer Sicht musst Du Dich als homosexuelle Frau zwar auf Alltagsdiskriminierung einstellen, aber dafür wirst Du, im Vergleich zu Deinen heterosexuellen Kolleginnen, im Job besser bezahlt. Noch immer schlechter als die heterosexuellen Kollegen, bei denen der mittlere Stundenlohn bei 18,14 Euro liegt. Mit 16,44 Euro die Stunde verdienst Du, bei gleicher Qualifikation, Stellung, Berufserfahrung, Arbeitszeitmodell und Branche nicht nur mehr als Deine heterosexuellen Kolleginnen (14,40 Euro/Stunde), sondern auch mehr als homosexuelle Männer (16 Euro/Stunde). Die Forschung bezeichnet dieses Phänomen in Anlehnung an den Gender Pay Gap als den „Sexuality Pay Gap“.

Sexuality Pay Gap

Vergütung pro Stunde bei gleicher Qualifikation, Branche und Tätigkeit

Seit Juni 2016 ist Etienne Teamleiter von 16 Mitarbeitern, den Sexuality Pay Gap bekommt er bei Amazon nicht zu spüren. „Das gibt es nicht.“ Denn bei Amazon werde, egal welches Geschlecht, welche Religion oder welche Sexualität, jede*r nach sogenannten Joblevel bezahlt, das heißt nach seiner Tätigkeit.

Die Angst bleibt

Statistisch gesehen hast Du als homo- oder bisexuelle Frau ein geringeres Wohlbefinden und ein höheres Risiko für psychische Probleme. Die SOEP-Studie begründet dieses Ergebnis unter anderem mit der Annahme, dass die Diskriminierung und Stigmatisierung, der die homo- und bisexuell orientierten Befragten aufgrund ihrer sexuellen Orientierung ausgesetzt sind, zu chronischem Stress führen. Der dauerhafte Stress führt wiederum, so die Studie, dazu, dass im Vergleich zu den heterosexuellen (10 Prozent), doppelt so viele der lesbisch, schwul oder bisexuell orientierten Befragten angaben, dass bei ihnen schon einmal eine depressive Erkrankung diagnostiziert wurde (20 Prozent). Auf einer Skala von 0 (ganz und gar unzufrieden) bis 10 (ganz und gar zufrieden) bewerteten die lesbischen, schwulen und bisexuellen Befragten ihre allgemeine Lebenszufriedenheit im Schnitt mit einer 7,0, die heterosexuellen Befragten waren mit 7,4 etwas zufriedener.

Etienne hat zwar keine systematische Diskriminierung an seinem Arbeitsplatz erlebt, dennoch ist ihm bewusst, aufgrund seiner Homosexualität jederzeit zur Zielscheibe werden zu können.

Die Angst bleibe, dass, „egal wie Du Dich verhältst, am Schluss du der derjenige bist, der in irgendeiner Form nochmal zusätzlich ausgegrenzt wird.“ Das schwinge immer mit. „Da kannst du Schwulen- und Lesbenverbände haben, da kannst du irgendwelche Arbeitsgruppen in Firmen haben.“ Am Schluss, sobald Du zu irgendeiner vermeintlichen Minderheit gehörst, würdest Du immer diese Angst haben, dass letztlich Deine Rechte nicht gewahrt werden, sagt der 34-Jährige.

Du befindest Dich im täglichen Kampf mit Dir selbst, kämpfen oder sparst Du Deine Ressourcen? Etienne entschied sich im konkreten Fall für Konfrontation:

„Ich habe einen Mitarbeiter zur Rede gestellt und gesagt ‚Hör zu, ich habe keinen Bock mehr auf den Scheiß. Ich will, dass das aufhört.‘ Er hat es später abgestritten, das wären doch alles nur Missverständnisse gewesen. Ich habe den Braten gerochen. Ich weiß wie die Leute sind und ich habe das so viele Jahre vorher erlebt, wie es ist, wenn Menschen tuscheln. Da kann mir hinterher keiner einen Bären aufbinden. Ich habe die Sache aber auf sich beruhen lassen. Mir war es wichtiger, meine Ruhe zu haben.“

Das mag nach Resignation klingen, aber Etienne weiß heute, dass es sich nicht jeder Kampf wert ist gekämpft zu werden.

„Was mich betrifft, betrifft auch muslimische Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen, betrifft Menschen, die sich in irgendeiner Form unterscheiden von der Durchschnittsmehrheit, die wir aktuell noch haben. Man muss sich an diese Alltagsrassismen gewöhnen, oder aber man fährt jedes Mal die politische Keule aus und dann wirst du nicht fertig, nicht an so einem Standort.“

Etienne

„Ich glaub, ich war früher kämpferischer.“

„Ganz allein jedes Mal in einer Gruppe von zehn Leuten zu sagen, ‚Leute, denkt doch mal mit!‘, macht müde. Da musst du dir gut überlegen, wie viel dir deine Energie wert ist am Ende des Tages.“

Etienne hat auf jeden Fall nicht die Absicht, sich in seiner Lebensführung einschränken zu lassen und das wirst Du auch nicht.

Er und sein Mann haben in Wurzen ein Haus gebaut, haben Anschluss in der dortigen Gemeinschaft gefunden und sind glücklich, auch wenn es nicht immer einfach ist, mit Blicken und Kommentaren klarzukommen. Dass nun das Wahlbüro der AfD im Nachbarhaus gezogen ist, ist dann auch nur noch Ironie des Schicksals.

„Es ist schon so, dass Du Dich daran gewöhnen musst, dass alle Leute um dich herum immer noch nicht einfach nur wahrnehmen. Es bleibt für die Leute immer noch eine Ausnahme. Und so lange sie nicht selbst jemanden kennen, einen Freund, einen Arbeitskollegen, einen Familienangehörigen, der sich outet, wird es so bleiben.“



Dieser Text wurde für Dich ausgewählt, weil Du angegeben hast, homosexuell zu sein. Außerdem hast Du angegeben, dass Du eine Frau bist. Diese zweite Eigenschaft wird auch in diesem Text näher beleuchtet. Wenn Dich interessiert, was andere Menschen beschäftigt, kannst Du einfach den Test mit anderen Antworten wiederholen oder Dir unsere anderen Geschichten durchlesen:

Das Projekt Choose Your Own Future ist entstanden, weil wir uns damit auseinandergesetzt haben, wie bestimmte Merkmale das Leben vieler Menschen beeinflussen. Merkmale, an denen wir häufig wenig ändern können.

Es gibt viele Merkmale, die dazu führen können, dass Menschen diskriminiert werden. Wir können uns nicht mit allen davon auseinandersetzen, sondern mussten einige auswählen. Das heißt nicht, dass Eigenschaften, die hier nicht erwähnt werden, zu weniger Diskriminierung führen. Leid lässt sich nicht gegeneinander aufwiegen. Wir haben uns dafür entschieden, die Merkmale in folgender Reihenfolge abzufragen: Geschlecht > Bildungsgrad der Eltern > Sexuelle Orientierung > Migrationshintergrund. Sie könnten aber auch in jeder anderen Reihenfolge stehen.

Auch in unseren Texten mussten wir uns beschränken. Deswegen haben wir uns entschieden, nicht mehr als zwei statistische Merkmale in einem Text zusammenzufassen. Ein weibliches Arbeiterkind mit Migrationshintergrund wird also trotzdem nur bei dem Text über Arbeiterkinder mit Migrationshintergrund landen, der sich vor allem mit dem Migrationshintergrund beschäftigt.