Antonio

„Als schwuler Mann wird man in Brasilien leiden“

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Erst mal: Vielen Dank für Deine Offenheit! Denn wie Studien belegen, zögert die Mehrheit der Menschen, ihre Sexualität als lesbisch, schwul oder bisexuell offen zuzugeben. Das zeigt sich zum Beispiel im Sozio-oekonomischen Panel (SOEP) von 2017 des DIW Berlin- Deutsches Institut für Wirtschaftsforschung e. V. In dieser Befragung aus dem Jahr 2016 verweigerten 13% der Teilnehmenden die Frage nach ihrer Sexualität. Aus diesem Grund greifen Forschende bei der Berechnung des Anteils von Lesben, Schwulen und Bisexuellen innerhalb der erwachsenen Bevölkerung auf sogenannte Korrekturfaktoren zurück und gehen in ihren Studien von absichtlichen Falschangaben durch die Teilnehmenden aus, die damit ein vermeintliches Erwartungsbild der Gesellschaft erfüllen wollen. Der Anteil von Lesben, Schwulen und Bisexuellen in der Bevölkerung könnte deswegen auch deutlich höher sein, als bisher bekannt ist.

Im Zusammenhang damit könnte auch stehen, dass der Datenreport 2018 des statistischen Bundesamtes einen deutlichen Anstieg gleichgeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in Deutschland zeigt. Während es nach den Zahlen 2007 noch 68.000 gleichgeschlechtliche Lebensgemeinschaften gab, sind es demnach 2017 bereits 112.000 gewesen. Vielleicht lebst ja auch Du in einer gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft oder sogar Ehe?

Gleichgeschlechtliche Partnerschaften in Deutschland 2015

Antonio ist schwul und kommt aus Brasilien. Seit drei Jahren lebt er in Deutschland. Er ist für seinen Partner hergezogen. Hier, sagt er, habe er wegen seiner sexuellen Orientierung noch nie Diskriminierung erlebt. „Das kann auch daran liegen, dass ich in Berlin lebe“, schiebt er schnell hinterher. Dennoch: In Brasilien sei es schlimmer gewesen.

Ein eigener Strandabschnitt für die LBGTQ+-Szene

„Als schwuler Mann wird man in Brasilien leiden, so ist es einfach“, sagt Antonio. Dabei war Brasilien lange ein Staat, der als fortschrittlich und liberal galt. Seit 2013 dürfen in Brasilien auch homosexuelle Paare heiraten. Schon seit 1989 gelten in einigen Bundesstaaten Brasiliens Antidiskriminierungsgesetze, die die Diskriminierung von Homosexuellen strafbar machen. Rio de Janeiro ist in der LBGTQ+-Community unter anderem als Urlaubsort sehr beliebt. Dort gibt es einen eigenen Strandabschnitt für Homo-, Bi- und Transsexuelle.

All das gibt es noch. Trotzdem hat sich etwas verändert. „Vor drei Jahren gab es in Brasilien einen offenen, guten Dialog zum Thema Homosexualität“, sagt Antonio. Heute sei das Land kein sicherer Ort für Homosexuelle, Schwarze und Frauen. Die öffentliche Debatte habe sich verändert. Das hänge auch mit Brasiliens neuem Präsidenten zusammen, dem rechten Jair Bolsonaro.

38 Prozent der Deutschen finden es unangenehm, zu sehen, wenn zwei Männer sich küssen

Bolsonaro sagte selbst über seinen eigenen Sohn, er hätte ihn lieber tot als schwul. Laut Antonio sind solche Aussagen nicht selten in Brasilien: „Einige Eltern sagen, dass sie sich wünschen, dass ihr Kind gestorben wäre.“ Antonios Eltern haben bei seinem Coming-Out zum Glück positiv reagiert.

Sich zu outen, kann auch für homosexuelle Menschen in Deutschland wie Dich schwer sein. Laut einer Studie der Antidiskriminierungsstelle von 2016 finden in Deutschland zwar nur etwa 10 Prozent der Menschen Homosexualität unmoralisch und nur etwa 18 Prozent unnatürlich .

Gleichzeitig sagten 28 Prozent der Befragten aus, dass sie es unangenehm finden, zu sehen, wie zwei Frauen sich küssen. Bei zwei Männern fanden das sogar 38 Prozent unangenehm. Bei einem heterosexuellen Pärchen jedoch nur 11 Prozent. Nach Schätzungen gehören etwa 7,4 Prozent der Bevölkerung in Deutschland wie Du der LBGTQ+-Community an.

Öffentliche Sichtbarkeit von Homosexualität

Schwule verdienen weniger

Leider hast Du, wenn Du homo- oder bisexuell bist, in Deutschland auch ein höheres Risiko, an Depressionen zu erkranken. 20 Prozent der Menschen aus der LGB-Community leiden laut dem DWI unter Depressionen, während es unter Heterosexuellen nur etwa 11 Prozent sind.

Für Antonio ging die Diskriminierung noch weiter. Er erzählt, er habe im Laufe seines Lebens auch verschiedene Jobs wegen seiner sexuellen Orientierung nicht bekommen. „Einmal wollte ich an einer Modenschau teilnehmen und war dann traurig, dass ich nicht durfte. Später wurde mir unter der Hand gesagt, dass ich wegen meines Schwulseins abgelehnt worden war.“ Auch bei einem anderen Job habe er die Vermutung, dass es an seiner sexuellen Orientierung gescheitert sei. Im Bewerbungsgespräch habe er das nach einiger Zeit am Rande erwähnt.

Wer warum welchen Job nicht bekommen hat, lässt sich schwer belegen. Was sich aber belegen lässt: Wenn Du ein homosexueller Mann bist, wirst Du in Deutschland mit 16,44 Euro mittlerem Bruttostundenlohn deutlich weniger verdienen als ein heterosexueller Mann (18,14 Euro). Und das, obwohl homosexuelle Männer im Schnitt höher gebildet sind: 46 Prozent haben ein Abitur oder Fachabitur, während das unter Heterosexuellen nur bei 36 Prozent der Fall ist. Wenn Du eine homosexuelle Frau bist, hast Du jedoch mit durchschnittlich 16,44 Euro wahrscheinlich ein höheres Gehalt als eine heterosexuelle Frau, die im Schnitt 14,4 Euro verdient.

Antonio

„Es reicht nicht, dass du schwarz bist, du musst auch noch schwul sein“

„Ich wüsste nicht, warum ich mich verstecken sollte“, sagt Antonio dennoch. Er steht zu sich selbst und stellt sich damit der Diskriminierung entgegen. Auch, wenn ihn jemand tätlich angreift. „Als ich eines abends zu meinen Freunden in eine Kneipe kam, stellte sich mir ein Mann in den Weg, schubste mich und rief: ‚Es reicht nicht, dass du schwarz bist, du musst auch noch schwul sein!‘“ Weil Antonio auch schwarz ist, musste er in Brasilien nicht nur unter Schwulenhass, sondern auch unter Rassismus leiden.

In seiner Heimat, sagt er, ist es nicht selten, dass Schwule auf der Straße angegriffen werden. Ob man sicher sei, hänge vor allem davon ab, in welcher Gegend man sich aufhalte. 2017 gab es in Brasilien laut der größten brasilianischen Schwulenvereinigung Grupo Gay da Bahia 445 registrierte Morde an Menschen aus der LBGTQ+-Community. Damit hat Brasilien die meisten LBGTQ+-Morde weltweit. Seit 2016 ist die Zahl dieser Morde in Brasilien um 30 Prozent gestiegen.

Ein Mordfall, der in Brasilien für Aufmerksamkeit gesorgt hat, war der Tod der schwarzen, lesbischen Politikerin Marielle Franco. In den Favelas Rio de Janeiros hatte sie sich für Randgruppen engagiert. Ihr Tod führte zu heftigen Protesten im ganzen Land.

„Gegen Abtreibung – aber nicht, wenn die Affäre schwanger ist“

Während Brasilien hohe Zahlen an Morden in der LBGTQ+-Community verzeichnet, gilt es trotzdem als schwulenfreundliches Land. In Brasilien gebe es auch viele Transvestiten, sagt Antonio, die als Prostituierte arbeiten. Ihre Dienste würden gern angenommen. Ihn störe die Doppelmoral im Land. „Die Leute verhalten sich am Tag auf eine Weise und in der Nacht auf eine vollkommen andere. Sie sind gegen Abtreibung – aber nicht mehr, wenn ihre Geliebte von ihnen schwanger ist“, sagt der Brasilianer bitter.

Deswegen unterstützen laut Antonio auch Schwarze und Menschen aus der LBGTQ+-Community den Präsidenten Bolsonaro, der sich immer wieder rassistisch und homophob äußere. Das sei auch eine Frage der Bildung. In Brasilien fehle es an hohen Bildungsstandards, das erschwere auch die politische Meinungsbildung in der Bevölkerung.

Im Alltag müssten Homosexuelle in Brasilien sich mit den Umständen arrangieren. „Man geht letztendlich eben in die Viertel, die schwulenfreundlich sind, und sucht sich Freunde, die niemanden diskriminieren“, sagt Antonio mit einem Schulterzucken. Dann leuchtet sein Gesicht kurz auf. In Deutschland habe er vor kurzem eine Busfahrerin gesehen, die, so glaubt er, eine Transfrau war. Das sei wunderbar gewesen: „Die Wahrscheinlichkeit, dass das in Brasilien passiert, ist nicht null, aber sehr, sehr gering.“



Dieser Text wurde für Dich ausgewählt, weil Du angegeben hast, homosexuell zu sein. Wenn Dich interessiert, was andere Menschen beschäftigt, kannst Du einfach den Test mit anderen Antworten wiederholen oder Dir unsere anderen Geschichten durchlesen:

Das Projekt Choose Your Own Future ist entstanden, weil wir uns damit auseinandergesetzt haben, wie bestimmte Merkmale das Leben vieler Menschen beeinflussen. Merkmale, an denen wir häufig wenig ändern können.

Es gibt viele Merkmale, die dazu führen können, dass Menschen diskriminiert werden. Wir können uns nicht mit allen davon auseinandersetzen, sondern mussten einige auswählen. Das heißt nicht, dass Eigenschaften, die hier nicht erwähnt werden, zu weniger Diskriminierung führen. Leid lässt sich nicht gegeneinander aufwiegen. Wir haben uns dafür entschieden, die Merkmale in folgender Reihenfolge abzufragen: Geschlecht > Bildungsgrad der Eltern > Sexuelle Orientierung > Migrationshintergrund. Sie könnten aber auch in jeder anderen Reihenfolge stehen.

Auch in unseren Texten mussten wir uns beschränken. Deswegen haben wir uns entschieden, nicht mehr als zwei statistische Merkmale in einem Text zusammenzufassen. Ein weibliches Arbeiterkind mit Migrationshintergrund wird also trotzdem nur bei dem Text über Arbeiterkinder mit Migrationshintergrund landen, der sich vor allem mit dem Migrationshintergrund beschäftigt.